Einst als Pyromane verschrien
Über 30 Jahre Kommunalpolitik – Ewald Seidler (Gießener Anzeiger 2025-01-08)

Pohlheimer einst als Pyromane verschrien
Stand: 08.01.2025, 06:19 Uhr
Von: Ernst-Walter Weißenborn
Wie Ewald Seidlers Weg in Pohlheim von den Grünen zu den Freien Wählern führte – Stationen seines Lebenswerks.

Pohlheim . »Ein Archiv ist in der Politik wichtig«: Auf Ewald Seidlers Schreibtisch in Holzheim liegen zahlreiche Pläne, Plakate und Zeichnungen, ein Lebenswerk. Nach über drei Jahrzehnten Politik hat der Freie Wähler viel gekämpft und viel umgesetzt. Sein öffentliches Engagement in politischen Ehrenämtern endete im Frühjahr des vergangenen Jahres. Seidler hat etliche Positionen begleitet, war unter anderem in all den Jahren auch Bürgermeisterkandidat der Grünen und deren Fraktionsvorsitzender, später Erster Mann der Freien Wähler im Stadtparlament, zudem Erster Stadtrat und Umweltdezernent sowie Umweltausschussvorsitzender im Kreistag.
Seine Eltern fanden als Heimatvertriebene Ende der 1940er Jahre in Holzheim eine neue Heimat. Schon mit 17 Jahren hängten Seidler und andere Jugendliche aus eigenem Antrieb Nistkästen auf und beobachteten Vögel. »Wir waren immer draußen«, erinnert sich der heute 73-Jährige. »Der Wald war unser Zuhause. Besonders interessant war die Gambacher Seite. Hier konnte damals nach Herzenslust in zwei Teichen gebadet werden, heute unvorstellbar.«
Hausmüll im Badeparadies
Doch das Vergnügen sollte nicht von Dauer sein. Im Schwimmparadies der einstigen Brauneisen-Grube Adler landete Hausmüll. Das war Mitte der sechziger Jahre.
Gemeinsam mit Alfred Görlach und einigen anderen Holzheimer Jugendlichen wollten er und Ulrich Sann, ein enger Freund aus Holzheim, die Natur erhalten. Der gelernte Feinmechaniker, den das Schicksal des Naturbades im Nachhinein immens verärgerte, zeichnet gerne. Seidler skizzierte daher für den Naturschutzverein in den siebziger Jahren als erstes Projekt eine Bachinsel samt Sumpfwiese auf Holzheimer Gemarkung.
Doch der Vorschlag wurde nach einem Vororttermin vom Ortsbeirat einfach weggewischt. »Da habe ich die ersten Erfahrungen gesammelt, und es wurde auch schon einmal laut«, schmunzelt der Holzheimer. Er und sein Freund, der Chemie- und Biologielehrer Sann, hätten sich daraufhin entschieden, über die Politik ihre Ziele zu verfolgen. Das Duo wollte für die Zukunft verhindern, was auf Gambacher Seite geschehen war.
Seidler gründete Mitte der 80er Jahre den Pohlheimer Stadtverband der Grünen. Die Holzheimer fanden bei einer noch jungen Partei, die sich dem Umweltschutz verschrieben hatte, eine erste Heimat.
Nach einem großflächigen Erdrutsch 1979 drohte dem Steinbruch Nickel ein ähnliches Schicksal wie der Grube Adler. Das galt es zu verhindern. Zur Verfüllung waren danach erste Schichten an Bauschutt und Grünabfällen abgelagert worden, die alsbald im emporsteigenden Grundwasser schwammen. Seidler zeigt Fotos eines Umweltdesasters der 70er Jahre aus seinem Archiv. Als junger Naturschützer erlebte er, wie daraufhin sauberes Wasser eines angrenzenden Teichs umkippte und eine große Anzahl toter Fische gefunden wurde. So darf das nicht ausgehen, sagte er sich.
Der Landkreis forderte für den Steinbruch vom Betreiber einen neuen Rekultivierungsplan, der 1984 vorgelegt, aber nie umgesetzt wurde, weil es den Geländebruch gab.
Sechs Jahre später sollte ein neuer Plan genehmigt werden, der wie auf den ehemaligen Deponien in Allendorf/Lahn und Reiskirchen eine grüne Kuppe als Abdeckung vorsah. Nur am Fuße waren Minitümpel für Vögel, Schmetterlinge und Reptilien vorgesehen. Das wollten die Holzheimer Vogelschützer nicht und Seidler skizzierte eigene Ideen für die zu rekultivierende Steinkaute.
Die Stadt Pohlheim saß mit Anteilen im Eigentümer-Boot und hatte ein Mitspracherecht zur Art der Rekultivierung. Seidler war 1985 auch ins Pohlheimer Stadtparlament gewählt worden und lehnte die Komplettverfüllung vehement ab. Ein Lebensraum für Insekten und Reptilien sollte entstehen und kein »Monte Scherbelino« mit Gasemissionen wie in Reiskirchen. Mit seiner Vision eines Naturschutzareals überzeugte er die anderen.
Naturschutzgebiet geschaffen
Ein Idyll auf verdichtetem Müll entstand. »Manchmal sehe ich, dass Gasblasen im Wasser aufsteigen. Wer weiß, was da noch gärt. Doch ›umgekippt‹ ist dort nie wieder etwas.«
Seit 2015 ist der Steinbruch Nickel als »Naturschutzgebiet Steinkaute« anerkannt und ausgewiesen. Wer dort vorbeischaut, kann von einem ehemaligen Gebäudeteil, das als Aussichtsplattform dient, seltene Tierarten mit dem Fernglas bewundern. Hier ist die wenig verbreitete Kreuzkröte heimisch.
Noch mehr Deponieärger drohte in Holzheim Ende der 80er Jahre. Als 1985 die erste rot-grüne Mehrheit im Landkreis regierte, wurde Seidler auch Kreistagsabgeordneter der neuen Partei und dazu Vorsitzender des Kreis-Umweltausschusses. Landrat war damals Rüdiger Veit (SPD).
Zwei Jahre später startete eine große Protestbewegung in Holzheim, als die Koalition am Rande von Seidlers Heimatdorf eine große Kreis-Hausmülldeponie mit Autobahnanbindung, analog der noch heute bestehenden Deponie im Lahn-Dill-Kreis, bauen wollte. Die Holzheimer zeigten Zivilcourage, standen zusammen, protestierten lautstark und blockierten Vorarbeiten. Der Kreistag beerdigte letztlich aufgrund des immensen öffentlichen Drucks und Gesetzesänderungen das Vorhaben. Seidler stimmte 1987 im Kreistag gegen die eigene Partei.
Verbrennung mit Vorteilen
Zum Plan der Kreismülldeponie meint er heute, dass er nie verstanden habe, warum eine Lagerung des Mülls sicherer sein sollte als dessen thermische Verwertung. »Ich habe in der Verbrennung Vorteile gesehen, doch ich und Ulrich Sann wurden als ›Pyromanen‹ verteufelt. Heute kräht kein Hahn mehr danach. Der Müll wird verbrannt und für die Nahwärme genutzt.«
Seidler schied jedenfalls Ende 1988 aus dem Kreistag aus, hatte die Nase voll von der eigenen Partei. Er und Sann traten ein Jahr später aus Protest zu den Kommunalwahlen 1989 in Pohlheim mit einer Grünen Liste gegen die Grünen an. Sie erreichten aber keine fünf Prozent der Wählerstimmen.
Beide pausierten danach bis 1993. Sann war zwischenzeitlich bei den Grünen sogar ausgetreten. Zwar haderten beide mit der Partei, waren den Ideen der Grünen aber doch so eng verbunden, dass sie erneut, erstmals mit einer Frau, der heutigen Stadtverordnetenvorsteherin Hiltrud Hofmann, aufs politische Parkett zurückkehrten. Alt-Grüne um Frank Pötter versuchten das Comeback der Naturschützer mit einer Alternativen Liste zu verhindern. Es gelang ihnen nicht. Ewald Seidler erhielt wie 1985 die meisten Stimmen.
Der Feinmechaniker trat sogar 1996 als Bürgermeisterkandidat gegen den damals obsiegenden Karl-Heinz Schäfer (SPD) zusammen mit drei weiteren Bewerbern in der Direktwahl an.
1999 kam der endgültige Bruch mit seiner Partei. Seidler, der 1993 die meisten Stimmen während der Kommunalwahl auf sich vereinen konnte, sollte keinen Listenplatz für die nächste Wahl 2001 erhalten. Sann kandidierte daraufhin als »Hospitant« und wurde bei der Wahl von einem hinteren Listenplatz von den Wählern auf den ersten Platz kumuliert und hatte damit ein Mandat als Stadtverordneter. Sein Freund Seidler verabschiedete sich für diese Legislatur als Stadtverordneter, wirkte allerdings bis 2006 als Parteiloser im Ortsbeirat Holzheim. 2006 kehrte er in die Stadtpolitik zurück, unter Coleur der Freien Wähler (FW).
»Ulrich Sann und ich haben uns immer mehr von den Grünen entfremdet«, blickt der Holzheimer zurück. »Deren Werte haben sich stark verändert. Wir aber haben uns immer als Naturschützer verstanden«, unterstreicht der 73-Jährige.
Der ehemalige Landrat und Pohlheimer Fraktionsvorsitzende der Freien Wähler, Ernst Klingelhöfer, erkannte, dass Seidler, aber auch Sann bereit waren, sich neu zu orientieren. 2006 starteten beide im Wahlkampf erfolgreich für die Freien Wähler. Seidler wurde Mitglied im Magistrat um Bürgermeister Karl-Heinz Schäfer.
Höhepunkt seines FW-Wirkens bis zum Abschied aus der aktiven Politik im vergangenen Jahr war die Tätigkeit als Erster Stadtrat sowie Umweltdezernent in der Limesstadt unter CDU-Bürgermeister Udo Schöffmann. Seidler hat viele Ausgleichsmaßnahmen für Umwelteingriffe unter der CDU/FW-Regierung in Pohlheim auf den Weg gebracht und gilt als streitbarer Kenner der Materie. Er musste aber auch Diskussionen mit der SPD erleben, ob einem ehrenamtlichen Umweltdezernenten eine Aufwandsentschädigung gezahlt werden sollte.
Überfrachtet mit Aufgaben
»Ich war damals viel unterwegs für die Stadt Pohlheim«, stellt Seidler rückblickend fest. »Die Verwaltungen sind schon lange mit Aufgaben überfrachtet. Mit viel Mühe geht es in der Vielfalt der Angelegenheiten voran. Da habe ich damals halt manchen Teil allein erledigt, war sozusagen mein eigener Sachbearbeiter und habe dafür die Aufwandsentschädigung bekommen.«
Für ihn stellt sich Umweltschutz so dar, dass nicht alles so belassen werden kann, wie es ist. »Naturschutz ist auch ein Kampf gegen die Natur.« Daher müssten Flächen wie die Steinkaute gepflegt werden, um den Lebensraum in seiner alten Form für die Tierarten zu erhalten: »Wir leben in einer Kulturlandschaft. Hätten wir noch so viel Wald wie zu Urzeiten, dann wäre die heutige Landwirtschaft unmöglich.«
Er und Ulrich Sann seien rückblickend als Konservative unter den Grünen verschrien gewesen, deren Mitglieder aus dem studentischen Milieu kamen und »wir vom Dorf«. Das waren zwei verschiedene Welten. »Insofern war es positiv, denn wir haben gelernt, wie Politik auf höherem Niveau funktioniert. Ich erinnere mich an Parteienversammlungen in Kreiskommunen, wo Mitglieder der Grünen aus Frankfurt in voll besetzten Bussen angefahren kamen, um Abstimmungen zu dominieren«, kann Seidler sich gut an Joschka Fischers Zeiten erinnern, der 1985 erster Minister der Grünen in Deutschland wurde.
»Der Naturschutz ist für die Grünen ein Feigenblatt«, stellt Seidler heute fest. Das sei an der Gleichstromtrasse »Rhein-Main-Link« gut zu erkennen, die sich jetzt eventuell durch die Holzheimer Gemarkung schieben könnte. »Früher standen Kraftwerke da, wo Strom gebraucht wurde«, sagt Seidler, der 25 Jahre als Maschinenbautechniker bei den Stadtwerken Friedberg im Bereich Wasser- und Gasversorgung gearbeitet hat.
Der Holzheimer ist ein Mensch, den seine Umwelt bewegt und damit die Geschichte seiner Heimat. Als passionierter Läufer und Radfahrer kommt er an viele Orte. Am Limes gibt es viel zu entdecken, unter anderem die Umrisse eines Römerkastells, eines kleinen Truppenlagers im Holzheimer Wald. Seidler entdeckte bei einem seiner Langläufe Sondengänger am Limes und dabei illegale Raubgrabungen. Diesen Frevel am Limes im Holzheimer Wald meldete er den zuständigen Behörden, woraufhin auf seine Hinweise die Landesdenkmalbehörde den Kastellgrundriss später aufmauern ließ.
Eine Infotafel wurde aufgestellt, aber einprägsam war das noch nicht. Da hatte Seidler die Idee, das Kastel nachzubilden. Zusammen mit vielen Helfern wurde eine Rekonstruktion geplant und ausgeführt. Zuerst wurde ein Baugerüst aufgestellt, an dem bemalte Tafeln aus Pappe angebracht wurden, die den Eindruck einer Außenmauer und eines Turms vermitteln sollten. In der Adolf-Reichwein-Schule waren die Tafeln vorher unter der Leitung von Rektor Norbert Kissel von Schülern bemalt und bedruckt worden. Ministerpräsident Volker Bouffier war der Schirmherr dieser Aktion und eröffnete diesen Blick in die Vergangenheit. Dieser historische Rückblick war damals ein großer Erfolg.
Als Radwege- und Mobilitätsbeauftragter der Stadt Pohlheim hatte er zudem die Idee, eine Fußgänger- und Radfahrerbrücke von Garbenteich über die Landesstraße nach Lich in das zukünftige Gewerbegebiet Garbenteich-Ost zu bauen. Ob diese Brücke realisiert wird, ist noch unklar. Bisher müssen Fußgänger und Radfahrer die gefährliche Landesstraße passieren.
Zähigkeit ist eine Eigenschaft
Über 30 Jahre kommunalpolitisches Engagement – was gehört dazu, wird Seidler gefragt: »Fantasie und Ideen reichen alleine nicht aus, sondern Mitmachen und Zähigkeit, das visionär Gedachte realitätsnah umzusetzen, sind erforderlich. Dabei dauert manche Verwirklichung sehr lange oder findet keine Unterstützung. Daher bleibt es nicht aus, auch mal einzusehen, dass manche schöne Idee letztendlich nichts war.«

in Holzheim. Foto: Stadtarchiv Pohlheim © Stadtarchiv Pohlheim